Bahnfahren ist schön …

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Mal eine Anekdote vom Pendeln mit der Bahn.

Bin ja recht viel mit der Bahn unterwegs zwischen Berlin und Thüringen, und da kann man viel erleben. Wirklich! Vor allem im Winter ist es wild. Nicht daß der Sommer in der Bahn langweilig wäre. Da überfährt man schon mal eine Kuh mit 190 km/h (in 2009) oder dient den Selbstmördern als Masse zur Vollendung Ihres Lebens (passiert jährlich). Ersteres war unangenehm (wegen der dramatischen Vollbremsung: der Vielfahrer guckt dann instinktiv zur Decke hoch, da sich dort bei diesen Gelegenheiten immer ein monströser Schalenkoffer der Trägheit entsprechend zu bewegen beginnt),  eine Kuh zu treffen ist doch eher kurios und vor allem ästhetisch eine Sauerei. Die Selbstmörder machen einen aber echt betroffen – (verharmlosender DB Jargon: “Unfall mit Personenschaden” – wobei mir “Schaden” immer irgendwie merkwürdig vorkommt, eher erinnert an die kaputten Stoßdämpfer meines Volvos) vor allem ist man betroffen, wenn man in die blassen Gesichter der Zugbegleiter guckt, die sich erstmal zur geistigen Sammlung zurückziehen müssen, nachdem sie hinten aus dem Zug zurückgeschaut haben. Dann der Staatsanwalt und die Mediziner, die anrücken, um die Situation zu untersuchen. 2 Stunden Pause sind dann garantiert, hätte ja jemand schubsen können oder sowas und irgend jemand muss auch den Zug noch genau untersuchen, und ein neuer Zugführer muss her. Wenn im Sommer dann noch 35Grad C Außentemperatur herrschen, dann kommt man schon mal ins Schwitzen und versucht sich maximal zu entblößen ohne anstößig auszusehen. Ab einem gewissen Alter ist ja alleine dies schon stressbehaftet. Der Vielfahrer will ja keinen Disput in der heißen Röhre, sondern eigentlich nur seine Ruhe.

Aber der  Winter … der ist eine ganz besondere Erfahrung in der Bahn. Das muss an den sibirischen Impressionen liegen beim Bahnfahren. Da zischt diese weiße Schlange von Schnee umstäubt durch das Land – vielleicht vergleichbar mit dem visuellen Impakt der alten Dampflocks – verliert hier und da Autoreifen große Eisklumpen, die sich donnernd im Gleisbett zerkleinern und man muss zwanghaft an diese Schmonzette: …. “Dr. Schiwago” denken oder so … . Sitzt man dann drin im Zug, fühlt es sich an wie auf Tauchfahrt: draußen die kalte, schneeverhangene Dunkelheit, drinnen gut gewärmt glimmt das Notebook-Display und man schlürft an einer warmen Tasse Tee oder fällt auf die sündhaft teuren Angebote der DB Snackbar herein (der Vielfahrer kauft da nur mit Verzehrgutscheinen, die er sich von seinen 10000 Bonuspunkten stapelweise zuschicken lassen könnte, wenn des Vielfahrers Frau nicht lieber für die Punkte das Hotelwochenende in Warnemünde buchen wollen würde … verdammt).

Tja soviel zu den netten Aspekten des Winter-Vielfahrens. Leider sind Teile der Bahntechnik nicht ganz kompatibel mit tiefen Temperaturen. Das führt immer wieder zu Komplikationen. Gerade vorgestern wieder kam es ganz dicke: -10 Grad Celsius (au weia – sibirische Winterverhältnisse in Deutschland) und sage und schreibe 8 cm Schnee! und das vor Leipzig, wo ja im Prinzip niemand lebt, um für das große DB-Unternehmen zu arbeiten. Tja, zuerst dachte ich ja: naja, der übliche Auflauf bei einem Kopfbahnhof, sind halt alle Gleise belegt, aber dann wurde irgendwie gar keines frei, und der Zug bewegte sich geschlagene 3 Stunden überhaupt und gar nicht. Dabei war der Hauptbahnhof Leipzig sozusagen in Sichtweite.  Besonders aufheiternd die Erklärung des Zugbegleiters: “… ein Team von DB-Mitarbeitern ist unterwegs, um die eingefrorene Weiche freizuarbeiten, leider schneit immer die Weiche wieder zu, an der das Team vorher gearbeitet hat …”. Da könnte man doch glatt an die Leiden des Sysiphus denken bei soviel Aufopferung für den DB-Kunden. Es soll ja auch Weichenheizungen geben, die das Einfrieren verhindern sollen. Es könnte ja auch noch kälter werden und dass der Winter kommt, daran hat ja wirklich keiner denken können. Und daß “ein Team” auf dem Weg ist, klingt auch schön heroisch: die kämpfen sich zu uns durch! oder: die werden uns retten! Wenn man aus dem verschneiten Fenster guckt, sieht man aber niemanden. Naja, noch unterhaltsamer die vielen Telefonate der vielen Sitznachbarn, die merkwürdigerweise alle das Gleiche berichten: ” Mama mach Dir keine Sorgen … , mir geht es gut …, hier ist es warm … , eine Weiche ist eingefroren … , unglaublich ne … , die Bahn wieder … usw. Es gibt aber auch erquickende Ausnahmen. Vorgestern muss jemand mit krankhaftem Freiheitsdrang die Bahn bestiegen haben, zumindest entwickelte sich das Telefonat mit Mama ganz anders als ich das sonst so gewohnt bin: es war eher so: “Mensch Mama ick will hier raus!  Ich raste gleich aus! Mensch!!!, Ick sitze hier schon 3 Stunden in dier Röhre, ick WILL RAUSSS verdammt, ich schlach jleich ne Scheibe ein oder so, Mama ich hätt doch mein Mittelchen mitnehme müsse, ch will wieder nach Münche zurück, nach Hause! [springt ruckartig aus dem Sessel auf] Dis hab ich mir schon jedacht, dass det janz blöd wird! mit dem Wegfahrn un so.  [Lässt sich wieder mit massigem Schwung in den Sitz fallen, sodass das Notebook des Sitznachbarn auf der Ablage hinter ihm einen knarzigen Sprung in die Höhe macht]”.

Irgendwann wird der Mann dann von den um ihn herum sitzenden älteren Frauen beruhigt: “Junger Mann, ist doch allet jut, hier isses doch warm, beruhigen Sie sich doch mal!” Andere sind da weniger verständnissvoll: “Mensch Alter, ich will deine Privatgeschichten nicht mithören hier! klar? ok? das nervt!” Tja so unterschiedlich sind die Geschmäcker. Ich finde solche Details ja immer erheiternd (wenns mich nicht zu direkt betrifft), spüre aber gleichzeitig diese diffuse Beklemmung, die sich breit macht, wenn man mit unkalkulierbaren menschlichen Gefühlsausbrüchen in geschlossenen Räumen ohne erkennbaren Fluchtweg konfrontiert wird (Gedankenfetzen durchschwirren des Vielfahrers Gemüt: muss ich mich gleich verteidigen? wird er gleich die Frau gegenüber angreifen? oder gar mit einem Gerät der nächsten Wahl (meinem Notebook) zuhauen?  usw.  uhh – wer Phantasie hat, der  ist halt nicht zu beneiden und muss unfair viel leiden im Leben.

Angenehm fallen dem Vielfahrer immer die Leute auf, die dann eine akademische Diskussion in gepflegtem Stil starten, und sich über ihr sündhaft teures iPhone am Notebook sofort schnell mal Spiegel-Online auf das Display holen (es könnte ja ne Bombenwarnung oder gar nen Anschlag im Leipzig Hauptbahnhof sein) oder die großartige DB-Webseite nach “Aktuelle Meldungen” durchforsten. Da geht der Vielfahrer dann gerne rüber und erkundigt sich ganz professionell: “Steht alles?” oder so: “Haben Sie Netz?”. Ein wissendes Nicken und dann setzt man sich schnell wieder, nachdem man auf DB Aktuell gesehen hat, dass der eigene Zug gerade 240 Minuten Verspätung hat (war ja auch nicht zu erwarten, dass die Bahn das mitbekommen hat). Der Vielfahrer will seine Ruhe und die Ruhe auch bewahren und lieber wieder eine Runde am Notebook arbeiten, der Vf will sich ja von den schnatternden Wenigfahreren auch abgrenzen, die die ganze Zeit völlig sinnfrei alle möglichen Gründe des mehrstündigen Verharrens dieses Zuges im Schnee erörtern müssen. Verspätungen von mehr als 2h sind selbst beim Vielfahrer eine Ausnahme, aber das kann man sich natürlich nicht anmerken lassen, außerdem: die Zeit muss schließlich sinnvoll genutzt werden. So bleibt es bei einem “kann man nix machen” und lässigem Schulterzucken.

Tja, ein echtes Highlight ist für den Vielfahrer aber das Palaver mit dem alten Zugschef, der sich auch eigentlich nur auf sein nettes Zuhause in Hamburg und seine aktuelle Forsyth-Lektüre freut und den jungen Vielfahrer-BC100-Schnösel missbilligend als “nicht-DB-insider” erkennt. Diese Uralt-DBler kurz vor der Pensionierung  sind überhaupt das, was einen dann einzig und alleine wieder aufbauen kann. Strotzend vor guter Laune, obwohl die Leute nur rumnölen und rumpöbeln, immer eine Anekdote auf Lager und von offenherziger Ahnungslosigkeit in Bezug auf die Absichten der DB-Netzleitung, sodass man sich sofort verbunden fühlt mit dem armen DB-Fast-Ruheständler und ihm insgeheim nur wünschen kann, dass sich dieser verdammte ICE-T endlich wieder etwas bewegt …

was er dann auch tut … für 400 Meter,

nur um dann in Leipzig weitere 2 Stunden zu parken.  Angenehmerweise sind da noch andere Züge. Ist ja nen schön großer Kopfbahnhof. So ist man gemeinsam am Erleben – das macht doch fast etwas Spass! Die anderen ICEs sind da natürlich auch nicht freiwillig. Stimmungserhebende Ansage: ” … der Zugverkehr in ganz Südostdeutschland ist zum Erliegen gekommen …” Wie kommt sowas wohl zum Erliegen? 8 cm Schnee? So macht sich im ICE angenehme Nachtruhe breit, die letzten Reste des Bistros werden geplündert,  ein Kind schreit im Familienabteil, weil es nicht einschlafen kann (“ist ja wie Zuhause” kommentiert ein Pappa und erntet prustendes  Gelächter). Manch einer verabschiedet sich noch telefonisch mit GuteNacht-Schmatzi vom Schatzi und kuschelt sich dann in eine fötale Schlafstellung.  Irgendwann gegen 0.45 rollt der ICE dann doch noch nach Berlin/Hamburg los, kaum zu glauben, es gibt spontanen Applaus im Großraumabteil – irgendwie so wie damals als man noch nach jeder Landung mit einem Jet applaudiert hat, noch am Leben zu sein. Es dämmert auch vielen Leuten, dass die anderen Züge wohl die Nacht über in Leipzig bleiben. Mit halber Geschwindigkeit nach Berlin und in Bewegung. Gegen 2.15 dann endlich Land in Sicht: Berlin Südkreuz wird ausgerufen! Kaum zu glauben: nach knapp 9 Stunden ist die Distanz Jena/Berlin überwunden. Beim Aussteigen bewundere ich noch meinen Lieblingsschaffner/den großen HELD, wie er die kleinen Trittstufen der ICE-Türen mit seinen Dienstschuhen bearbeitet. Die allgemeine Vereisung hat aus dem ICE-Unterbau wohl die glasierte Struktur eines Adventshexenhäußchens gemacht. Schick anzusehen, aber die Türen wollen ohne Tritt nicht mehr recht schließen, sieht irgendwie russisch – praktisch aus das Ganze und da fahren die Züge ja auch bei JEDEM Wetter.

Naja das Drama und der HELD (der alte Schaffner und das Eis) haben sich per Rolltreppe meinen Blicken entzogen und ich hab mich noch eine Stunde auf dem Fahrrad durch den Schnee gewühlt – nicht ohne 2x meinen Tiefschnee bedingten Radler-Hunger-Ast per Snickers mit einem Zucker-Peak zu bekämpfen.

Zuhause dann endlich um 3 Uhr morgens,  erstmal nen Shiraz geöffnet –  huuuh was für ein Ritt! Vielleicht “to be continued” – der Winter beginnt ja erst. Dann aber mit Foto-Doku dazu :)

S.